IQNA

Wie die kleinen Sünden uns von Gott entfernen

20:17 - July 23, 2020
Nachrichten-ID: 3002862
Teheran (IQNA)- Es ist vom Propheten (s.) überliefert worden: „Betrachtet eine Sünde nicht als gering, egal wie unbedeutend diese sein mag. [...] Die kleinen Sünden können mit Istighfar (Erflehen um Vergebung) verziehen werden, aber die Wiederholung von kleinen Sünden können diese zu großen machen.“

Ein Beitrag von Muhammad Hassani

Wie viele Sünden hast Du in deinem Leben schon begangen? Bitte zähle sie einmal alle auf. Oder nein, einfacher: Wie viele hast du in den letzten zehn Jahren begangen? Wie viel hast du im letzten Jahr begangen? Nein, es reicht, wenn du die Sünden des vergangenen Monats aufzählst. Gut, ist auch zu viel, dann nehmen wir die letzte Woche. Ist das auch zu viel?

Irgendetwas ist offensichtlich schiefgelaufen bei uns. Einige Menschen halten sich über Jahrzehnte rein, fürchten sich vor der kleinsten Sünde und wir schaffen es nicht einmal, alle begangenen Sünden von heute aufzuzählen. Haben wir erst gar nicht angefangen zu zählen oder schmunzelten innerlich über die obigen Fragen? Halten wir eine solche Frage für absurd, für realitätsfern? Was sind in Wirklichkeit die Gründe für unsere zahlreichen Sünden? Was sind die Gründe für größere Sünden?

Um auf diese Fragen Antworten zu finden, müssen wir zunächst einmal verstehen, was beim Sündigen bzw. was bei der allerersten begangenen Sünde geschieht. Hierbei wollen wir uns nur auf einen Aspekt konzentrieren: die Schamgrenze. Mit der ersten Grenzüberschreitung, mit dem ersten Auflehnen gegen Allahs Befehl verändert sich vom einen auf den anderen Moment alles. Die Grenze, die man sich nie getraut hat zu überwinden, wurde überschritten. Am Beispiel eines Diebes lässt sich anschaulich zeigen, was die resultierenden Folgen sind. Des Diebes erster Diebstahl war eine absolute Überwindung und nur aus größter Not heraus. Doch mit jedem weiteren Diebstahl sinkt die Hemmschwelle. Nach unzähligen Diebstählen fragt er sich anschließend nicht mal mehr über die Gründe für sein Stehlen und seine Not, denn das Stehlen ist für ihn sehr einfach geworden – eine Gewohnheit.

Dieses Phänomen lässt sich nun auf unsere erste Sünde projizieren. Mit der ersten Sünde verschiebt sich eine vorher noch nie überschrittene Hemmschwelle. Unsere Hemmung, unsere Angst, unsere Abneigung von der Sünde nimmt ab. Unsere Schamgrenze verringert sich ein wenig, wie es im bekannten Dua al-Hazin heißt: „Denn gewiss ist meine Sünde übermäßig und meine Scham verringert.“ Die Sünde ein zweites Mal zu begehen, fällt nun viel leichter. Diese eine Sünde öffnet plötzlich Türen zu anderen Sünden. Und diese wiederum zu weiteren. Denn wir verschieben mit jeder begangenen Sünde unsere Grenzen und unsere Akzeptanz gegenüber der Sünde an sich.

Allerdings hat uns Allah auch ein Heilmittel gegeben, um unsere Sünden auszugleichen. Es ist die Tür der Reue, die Allah uns offen gelassen hat. Der Sünder hat die Möglichkeit, seine Sünde zu bereuen und um Vergebung zu bitten. Interessant ist hier, dass die Suche nach Vergebung und das aufrichtige Bereuen uns in zahlreichen Bittgebeten als ein Heilmittel gegen jede Sünde vorgestellt wird. Wirklich jede Sünde, egal ob ich sie begangen habe oder noch begehen werde oder begehen könnte. Aber ich bitte doch eigentlich nur um Vergebung für diese eine Sünde, warum sollte das andere Sünden, die ich in der Zukunft begehen könnte, bekämpfen?

Es ist die Reue, die unsere verlorene Schamgrenze, die wir verschoben haben, zurücksetzt. Durch das Ersuchen der Vergebung erlangen wir unsere Scham vor der Sünde wieder zurück. Wenn wir eine Sünde ohne Reue in uns lassen, ob bewusst oder unbewusst, wird sie unsere Grenze für immer verschieben. Immer wieder werden wir dann über diese oder andere Sünden stolpern, die wiederum unsere Grenze verschieben. Mit jeder Sünde, ob klein oder groß, verschieben wir unsere Grenze ein kleines Stück weiter von Allah in Richtung der Falschheit. Mit jedem Fehler, mit jeder Torheit, mit jeder Ignoranz verlieren wir das Gefühl dafür, wie gewaltig diese Sünde ist, die wir begangen haben. Wir geben dem Satan und der Sünde immer mehr und mehr Platz, sodass sie sich bald bei uns willkommen fühlen. Bestimmte Sünden und Fehler werden für uns normal. Stück für Stück verschwimmen die Grenzen und die Sünde wird zu unserem täglichen Brot. Doch wie sehen die Sünden aus, die wir aus Nachlässigkeit nicht bereuen, die unsere Hemmschwelle immer weiter auflösen?

Die Antwort erhalten wir vom Propheten Muhammad (s.). In einer Überlieferung von ihm heißt es: „Betrachtet eine Sünde nicht als gering, egal wie unbedeutend diese sein mag. Schätzt auch eure Tugenden nicht als hoch ein, egal wie bedeutend sie sein mögen. Die kleinen Sünden können mit Istighfar (Erflehen um Vergebung) verziehen werden, aber die Wiederholung von kleinen Sünden können diese zu großen machen.“

In dieser Überlieferung warnt der Prophet (s.) vor den kleinen Sünden. Sie sind gefährlich, begegnen uns vielleicht regelmäßig und sind das große Tor zur großen Sünde. Imam Ridha (a.) sagte einer anderen Überlieferung zufolge: „Die kleinen Sünden sind der Weg für die Hingabe zu großen Sünden.“

Die kleinen Sünden sind die, die wir in unserem Leben unterschätzen und ungeachtet lassen. Wir begehen sie vielleicht in unserem Alltag schon aus Gewohnheit, zweifeln unser Verhalten diesbezüglich aus unserer fortgeschrittenen Ignoranz heraus nicht einmal mehr an und bemerken diese kleinen Sünden gar nicht mehr. Dies wiederum kann nur aus einer schon verlorenen Hemmschwelle heraus resultieren. Und genau hier liegt unser Problem. Wir haben in unserem Leben schon so oft gesündigt, ohne es zu bereuen (insbesondere kleine Sünden), dass wir unsere Scham verloren haben. Wir sind in Anbetracht der Sünden schamlos geworden. Das ist die Gefahr der kleinen Sünde. Sie verschieben unsere Schamgrenze insoweit, dass sie Raum schaffen für größere Sünden.

Zu den kleinen Sünden gibt es eine höchst interessante Überlieferung von Imam Sadiq (a.): „Allah liebt keine Person, die kleine Sünden begeht und dann ihre Fehler außer Acht lässt. Fürchtet sehr die kleinen Sünden, die ihr vielleicht begeht. Seid euch bewusst, dass diese kleinen Sünden vielleicht nicht vergeben werden.“ Auf Nachfrage, was denn die kleinen Sünden seien, antwortete der Imam (a.): „Wenn jemand nach dem Begehen einer Sünde sagt: ‚Wie sehr wünschte ich, ich hätte keine andere Sünde begangen außer dieser hier.‘“

Im ersten Teil der Überlieferung spricht der Imam (a.) genau das Phänomen an, das uns in unserem Alltag häufiger passiert. Wir lassen die kleinen Sünden, kleinen Fehler außer Acht, wir drängen sie beiseite, weil wir sie unterschätzen, oder bemerken sie, Gott bewahre, gar nicht. Deswegen sagt der Imam (a.): „Fürchtet sehr die kleinen Sünden, die ihr vielleicht begeht. Seid euch bewusst, dass diese kleinen Sünden vielleicht nicht vergeben werden.“

Und dann erklärt der Imam, was diese kleinen Sünden sind: „Wenn jemand nach dem Begehen einer Sünde sagt: ‚Wie sehr wünschte ich, ich hätte keine andere Sünde begangen außer dieser hier.‘“ Warum ist es denn falsch zu sagen, ich würde alle meine begangenen Sünden gegen diese eine austauschen? Welche eigentliche Wahrheit verbirgt sich hinter dieser Aussage des Sünders?

In Wirklichkeit verharmlost der Sünder die begangene Sünde, aber auch die Sünde an sich mit diesem Gedanken. Er wünscht sich in dem Moment nur diese eine Sünde begangen zu haben, anstatt all der vorherigen Sünden und nimmt dabei die eine begangene in Kauf. Er vergisst, was die Sünde ist, er vergisst seine Scham gegenüber der Sünde an sich. Nicht die Strafe für die Sünde ist die Hölle, nein, die Sünde zu begehen ist die Hölle. Einer Überlieferung zufolge sagt Imam Ali (a.): „Es gibt keinen schlimmeren Schmerz für einen Menschen als den der Sünde und es gibt keine größere Furcht für ihn als die Furcht vor dem Tod.“

Jede einzelne Sünde ist Grund genug für eine ewige Strafe. Jede einzelne Sünde schafft eine unendliche Distanz zwischen dem Geschöpf und dem Schöpfer. Denn es ist eine Form der Undankbarkeit und der Beigesellung. Es ist allein Allahs unendlicher Gnade zu verdanken, dass er uns die Tür der Vergebung aufgelassen hat. Und dennoch ist jede Sünde, ob klein oder groß, eine große Gefahr für das Individuum. Besonders die kleinen Sünden bergen Gefahren, die der Sünder zunächst nicht bemerkt. Eine davon ist das Verharmlosen der Sünde. Für den Sünder werden manche kleinen Sünden zur Normalität, weil er sich vormacht, dass diese Sünde nicht so groß war. Er verharmlost sie und spricht sich selber zu, dass diese nicht so groß war wie vorherige Sünden. Mit jeder dieser kleinen Sünden verschiebt der Sünder seine Schamgrenze Stück für Stück weg von Allah. Die Sünde wird für ihn immer alltäglicher.

Die kleinen Sünden haben uns in unserem täglichen Leben so weit gebracht, dass wir sogar damit beginnen, die größeren Sünden als normal zu betrachten. Unsere Scham gegenüber der Sünde an sich beginnt schlichtweg verloren zu gehen. Der eigentliche Normalzustand, und zwar die Angst, dass man vielleicht eine Sünde begehen könnte, existiert kaum noch, da die Sünde schon längst die Vorherrschaft gewonnen hat.

Eine große Sünde, bei der man dieses Phänomen klar erkennen kann, ist die Lästerei. Muslime, die sich gegen das Lästern stellen, werden als Spielverderber bezeichnet. Sie sind bekannt dafür, dass man in ihrer Anwesenheit nicht lästern kann, deswegen wird oft gehofft, dass die Person bald weggeht, damit dann weiter gelästert werden kann.

All diese Zustände dürfen nicht bestehen bleiben. Wenn wir also die Sünde aus unserem Leben verbannen wollen, müssen wir jede Sünde, egal ob klein oder groß, zutiefst bereuen. Hierfür ist ein gewisser Grad an Selbsterziehung und vor allem Selbstbeobachtung essenziell. Denn nur durch diese Tugenden können wir unsere Gedanken und Gefühle bezüglich kleinerer Fehler oder Vergehen bemerken und richtig einordnen. Nur so können wir unsere kleinen Sünden erkennen und sie aktiv bekämpfen.

Es darf nicht mehr so sein, dass wir kleinere Sünden in Anbetracht unserer Größeren beiseite drängen. Denn nur durch das Hinnehmen kleinerer Sünden lassen wir dem Teufel Raum, uns zu größeren zu verleiten. Jeder kleinen Sünde muss entschieden entgegengetreten werden. Der Mensch muss für sich den Entschluss fassen, sündenfrei zu leben. Er sollte jede begangene Sünde, falls er an einem Punkt scheitern sollte, so bereuen, wie wir es aus den Erzählungen über die Gefährten des Propheten (s.) oder der Imame (a.) kennen: Nächte lang bitten sie Allah um Vergebung für die kleinsten Sünden, weil sie deren Wirkung nicht unterschätzen, und lebenslang verbringen sie ihre Stunden in Selbsterziehung und -beobachtung.

Lasst uns versuchen sündenfrei zu leben. Lass uns beginnen, alles zu geben, um die begangenen Sünden zu bereuen und sie ab jetzt aktiv zu bekämpfen. Lasst uns gemeinsam die Ketten der Sünden abstreifen, die uns am Boden halten und uns hindern, uns zu entwickeln, Gottes Liebe wahrzunehmen, kurz: loszufliegen. Lass uns heute damit beginnen, alles Vorherige bereuen und den Entschluss fassen, uns an die Befehle Gottes zu halten.

Hierzu gibt es eine sehr schöne Geschichte, die der revolutionäre Vordenker Muhammad Ali Ramin beim Abschlussvortrag der islamischen Tagung 2001[1] vortrug: Es gab mal vor einiger Zeit, so ungefähr vor 1100 Jahren, einen Dieb in Chorasan namens Fudhayl ibn Ayaz. Er war ein berüchtigter Dieb, ein Verbrecher, ein Krimineller, der in seiner Stadt dafür bekannt war. Eines Nachts wollte er wieder mit seinen Routineüberfällen beginnen und war gerade dabei, über eine Hausmauer zu klettern. Doch plötzlich hörte er die Stimme des Nachbarn deutlich, der in dieser Nacht Quran las. Und er war gerade bei der Aya, in der es heißt: „Ist es nicht für die, die glauben, Zeit, dass ihre Herzen demütig werden vor der Ermahnung Gottes?“ [Heiliger Quran 57:16]. Und dieser Verbrecher, der jahrelang in seinen Sünden verstrickt war, spürt diese Verse so, als wenn Allah ihn direkt ansprechen würde: „Du Fudhayl! Du Dieb! Du Verbrecher! Du Sündiger! Ist es nicht jetzt an der Zeit? Hast du nicht genug Lebenszeit verloren? Ist es nicht jetzt an der Zeit, dass du dich einmal der Sünde enthältst, dich kontrollierst? War all die Zeit, die du verloren hast, zu wenig für dich? Ist es nicht an der Zeit?“ Fudhayl blieb stehen und stieg wieder runter von der Mauer und sagte: „O Allah! Doch, es ist an der Zeit. Ich habe genug Möglichkeiten verpasst!“ Und er wurde zu einem der frömmsten Menschen seiner Zeit.

Kommen wir also zurück zu der Frage vom Anfang: Wie viele Sünden hast du begangen? Oder ist es nicht besser, jetzt zu fragen: Für wie viele Sünden willst du um Vergebung bitten?

 

1-https://muslim-tv.de/abschlussvortrag-bei-der-islamischen-tagung-deutschsprachiger-muslime-03-06-2001/ ↩︎

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Stichworte: Gott ، Prophet ، sündenfrei ، Vergebung
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